Robert Stieve stellt eine Gruppe von menschlichen Gestalten - keine Ganzfiguren
sondern Torsi - aus, von denen Besucher sich angeblickt fühlen können.
Der Torso ist in der Plastik der Moderne ein menschlicher Körper ohne Arme und Beine und meistens ohne Kopf. Robert Stieves Torsi haben Köpfe. Doch Kopf und Körper bilden
keine materiale Einheit. Der Kopf ist oft aus einem anderen Stein als der Körper, er ist weiter, nahezu realistisch' ausgearbeitet und mittels Farbe zusätzlich verlebendigt.
Die summarisch behandelten Körper oder kaum bearbeiteten Blöcke hat Robert Stieve teilweise so angestrichen, daß sie wie angezogen wirken: schwarze Hose, weißes Hemd. Er
bricht mit der tradierten Einheitlichkeit und Geschlossenheit der Plastik auch dadurch, daß er einigen von ihnen höchst befremdlich wirkende, an Verkehrszeichen erinnernde
Attribute beigibt.
Robert Stieve ist Bildhauer im traditionellen Sinne. Er arbeitet in Stein. Sein Interesse gilt der menschlichen Gestalt, dem ehemals zentralen Gegenstand der Kunstgattung
Plastik. Doch Idealgestalten und Helden, die dieser Tradition zugehörten, gibt es weder bei ihm noch überhaupt in der zeitgenössischen Plastik. Die Tradition der
künstlerischen Idealisierung hat die Moderne nicht überlebt. Der Nationalsozialismus wie der Sowjetkommunismus hatten sich dieser Tradition für ihre Zwecke bedienen können.
Nach 1945 versuchten einige Bildhauer diesem Mißbrauch zu begegnen, "das Bild des Menschen" in ihrer Kunst zu rehabilitieren. Heute maßt sich kein Künstler an, den Menschen
als solchen, als Ideal darzustellen. Doch der Mensch kann durchaus im Zentrum des Schaffens gegenwärtiger Künstler stehen, nur nicht als ein fragloses Bild vom Menschen, als
Ideal. Expressionistische Künstler hatten der Gebrochenheit des Menschen mit Deformierungen Ausdruck verliehen. Heute bedienen sich Künstler häufig der Fragmentierung, um der
Gebrochenheit oder aber der Offenheit ihres Bildes vom Menschen Präsenz zu verleihen
Robert Stieve verwendete in den 1990er Jahren für seine Torsi ausgediente Grabsteinsockel und bezog die damit verbundenen Beschränkungen in die Gestaltung ein. Der Torso,
ohnehin ein Fragment, war in seinem Volumen begrenzt. So entstanden keine Idealgestalten, aber in sich wohl proportionierte Figuren. Körper- und Gesichtsformen waren nur
andeutungsweise ausgearbeitet. Mit sicht- und tastbaren Arbeitsspuren erzielte Robert Stieve eine relativ gleichmäßig rauhe Oberfläche und den Eindruck von Homogenität. Das
Fragmentarische trat dahinter zurück. Aufgrund ihrer materialen wie formalen Einheitlichkeit und der gleichförmigen Bearbeitung wirkten die Torsi zeit- und ortlos, wozu auch
die Nacktheit beitrug. Nichts war gegenwartsbezogen, nichts gewöhnlich.
Diese Art von Kunst scheint sich noch immer an einem Ideal, an Harmonie und Ganzheitlichkeit zu orientieren. Damit bricht Robert Stieve, wo er mit dem Auftragen von schwarzer
und weißer Farbe auf den Stein Hose und Hemd andeutet. Mit dem Verweis auf Kleidung gibt er die Distanz bewirkende Homogenität der Skulptur auf. Der Torso ist nicht mehr-
nurabgehoben zeitlos, er ist - auch - Zeitgenosse. Aber er ist nicht ganz von dieser Welt. Das Zeitgemäße, das Gewöhnliche bleibt auf die Oberfläche beschränkt. Der Mensch ist
eins und ist zugleich im Zwiespalt mit sich und der Welt.
So läßt sich auch das eigenartige Verhältnis von Kopf und Körper interpretieren. Die Köpfe, insbesondere die Gesichter sind bildhauerisch detailliert ausgearbeitet und -
eigenartig unbestimmbar - individualisiert. Für die Gesichter verwendet der Bildhauer zusätzlich Farben, so als wolle er ihnen Leben einhauchen. Die Körper sind bildhauerisch
summarisch bearbeitet, Körperformen treten, wenn überhaupt, nur ansatzweise in Erscheinung und die Kleidung andeutende Farbe bedeckt den Stein ohne jede Nuancierung oder
Binnenzeichnung. Die individualisierende farbige Bezeichnung des Gesichts mit Farbstiften bleibt ebenso an der Oberfläche wie die Kleidung andeutende Farbe am Körper. Diese
Oberflächen beleben und aktualisieren die Torsi. Der Bruch mit der Einheitlichkeit und Homogenität der Skulptur wird an dem Verhältnis Kopf-Körper besonders augenfällig. Die
Köpfe sind ganz anders ausgearbeitet und überwiegend aus anderem Stein als die dazu gehörenden Körper. Kopf und Körper sind nicht eins. Ihre Verbindung erscheint häufig als
Bruchstelle.
Bei > zwei in Diabas gearbeiteten Figuren bestehen Kopf und Rumpf aus dem gleichen Material; Farbe ist hier nicht im Spiel. Aber der Kopf bzw. das ausgearbeitete Gesicht
steht im Kontrast zu dem kaum geformten Körper. Bei der einen Figur scheint ein winkelförmiger Block in den Kopf einzudringen. Doch dieser Block, aus dem Stein
herausgearbeitet wie der Kopf, bildet eine stofflich materiale, nur keine formale Einheit mit diesem. Tritt hier das Innere nach außen oder dringt das Äußere nach innen? Ist
mit dem Verhältnis von Außen und Innen auch das von Form oder Gestalt und Stoff oder Material angesprochen? Geht es also auch hier um das Gebrochensein?
Das Verhältnis von Außen und Innen thematisiert Robert Stieve augenfällig da, wo er einen Teil des Steins, der ihm für einen Torso zur Verfügung stand, als Fragment stehen
läßt. Der schwarz-weiß gestrichene Torso, teilweise in und hinter dem Fragment des Steins verborgen, erscheint als das Innere des Blocks, aus dem er herausgearbeitet ist, des
Steins, aus dem dieser besteht. Von vorn gesehen tritt das Reststück des Blocks wie ein schwerer Schutzschild des schmächtigen Torso mit dem fein ausgearbeiteten und
weitgehend geglätteten zarten Gesicht in Erscheinung. Auf die vollständig erhaltene rechteckige Seitenfläche des Steins ist ein blauweißes Schild aufgemalt, das aussieht wie
ein Verkehrsschild, hier in jeder Hinsicht ein Fremdkörper. Oder erscheint die Skulptur von der Seite her betrachtet, wie ein Stein mit Hinweisschild an einer belebten Straße?
Ist also die Kunstfigur Torso in die Alltagswelt integriert?
An einem schlanken, geradezu zart wirkenden Torso mit einem Kopf, bei dem nicht auszumachen ist, ob es sich um eine Frau oder einen Mann handelt, lehnt ein Rohr, das auf einem
runden, weiß umrandeten blauen Schild in einem Pfeil endet. Auch hier stellt sich die Assoziation Verkehrsschild ein aber auch Speer und Schild. Der Torso kann - als Jeanne
d'Arc? - als weiblicher gesehen werden, obwohl die Brust flach ist. Die Oberfläche des Diabas tritt nun als Brustpanzer in Erscheinung.
Der einzigen Figur aus Holz, die auch schwarz (für Hose) und weiß (für Hemd) bemalt ist, hat Robert Stieve ein an einer langen Stange befestigtes verfremdetes Verkehrszeichen
beigegeben. So ausgestattet kann der Torso als - unzeitgemäßer - Wächter oder Standartenträger oder Galionsfigur gesehen werden. Die lange Stange mit dem - verfremdeten -
modernen Verkehrszeichen löst die so unterschiedlichen Assoziationen aus und stellt sie, weil unzeitgemäß, zugleich in Frage. Die Teile fügen sich zu einer höchst
widersprüchlichen Einheit, so auch bei dem roten Torso.
Der Stein, der hier als Körper dient, an dem die Spuren des Brechens zu sehen sind, ist geradezu unförmig. Mit einem Kopf versehen und mit roter Farbe überzogen wird der
unförmige Stein zum - mit einem roten Gewand bekleideten - Körper. Die weiße Hand aus Beton wirkt, obwohl plump und disproportioniert, geradezu maniriert gravitätisch. Sie
weist nach oben, auf den Kopf, oder nach innen, auf die Brust, den Körper. In dieser Pose ist das eine Aufmerksamkeit und Beachtung heischende Gestalt. Dieser Eindruck wird
durch die Haltung des Kopfes und den gerichteten Blick unterstrichen. Achtung gebietet die Skulptur aber auch, weil sie in ihrer großen Form und den Farben an ein Beachtung
forderndes Verkehrsschild gemahnt.
Robert Stieve hat die zu Harmonie tendierende Allgemeinheit und Abgehobenheit seiner Torsi der 1990er Jahre aufgebrochen, ohne den Torso, den Körper, den Menschen aus seiner
Kunst zu verbannen. Die neuen, in sich widersprüchlichen Torsi verweisen darauf, daß die Welt nicht eine, in sich ruhende und heile Welt ist und die Menschen - nicht der'
Mensch - sich im Spannungsfeld einer widersprüchlichen Welt orientieren müssen. In diesem Spannungsfeld wahren die Figuren von Robert Stieve eine gewisse Gelassenheit, ein
In-sich-Ruhen.
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